Menschenkenntnis - das sollten Sie wissen

 


„Menschenkenntnis ist nicht viel mehr als eine schöne Illusion, die uns des Nachts zu Unrecht ruhig schlafen lässt. Durch regen Kontakt zu anderen Menschen wird man ebenso wenig zu einem Menschenkenner, wie durch regelmäßige Nahrungsaufnahme zu einem Gourmet.“
Uwe P. Kanning


Zugegeben, dieser Satz ist provokant - aber steckt da nicht ein Fünkchen Wahrheit drin?

1.    Was versteht man unter Menschenkenntnis?

In der Psychologie versteht man unter dem Begriff Persönlichkeit die charakteristischen Muster unseres Denkens, Fühlens und Handeln (Myers & DeWall, 2023, S. 626). Wie aber können wir die Persönlichkeit eines anderen Menschen erkennen? Spontan fällt uns dazu der Begriff Menschenkenntnis ein. Aber wie gut sind wir darin, andere Menschen richtig einzuschätzen? Können wir in Sekundenschnelle ihre wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale erkennen und darauf basierend ihr Verhalten vorhersagen?

Die meisten Menschen werden diese Fragen spontan bejahen, insbesondere wenn es sich um Führungskräfte handelt, wenn man schon viele Bewerbungsgespräche geführt hat oder wenn man täglich mit Kunden zu tun hat (Kanning, 2014). Doch Studien zeigen, dass wir uns eher überschätzen und sehr oft falsch liegen (Rau, 2025).

Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter Menschenkenntnis die Fähigkeit, die Persönlichkeit, die wesentlichen Charaktereigenschaften, die Absichten oder das zukünftige Verhalten einer Person in kurzer Zeit richtig einzuschätzen und vorauszusehen, wie diese Person denken und handeln wird (Mai, 2025). 

Der Begriff "Menschenkenntnis" wird in der Wissenschaft so nicht verwendet. Vielmehr spricht man von „Accurate Personality Perception“ (auf Deutsch: „akkurate Persönlichkeitswahrnehmung“) und bezeichnet die Fähigkeit, die tatsächlichen Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person möglichst zutreffend zu erkennen und einzuschätzen (Kafetsios & Hess, 2022). Es geht also darum, wie genau ein Urteil oder eine Einschätzung über die Persönlichkeit eines Menschen mit dessen realen, objektiv vorhandenen Eigenschaften übereinstimmt.

2.    Vorteile einer ausgeprägten Menschenkenntnis

Eine gute Menschenkenntnis ist überall dort von Vorteil, wo Menschen zusammenkommen, kommunizieren, zusammenarbeiten oder gemeinsam Entscheidungen treffen. Sie trägt maßgeblich zu einem harmonischen Miteinander, erfolgreicher Zusammenarbeit und effektiver Führung bei. Wer Menschenkenntnis besitzt, erkennt schneller, welche Bedürfnisse und Erwartungen andere haben. Das erleichtert nicht nur die Zusammenarbeit, sondern beugt auch Missverständnissen vor. Besonders bei der Lösung von Konflikten ist Menschenkenntnis unverzichtbar.

3.    Verzerrungen in unserer Wahrnehmung

Doch warum täuschen wir uns immer wieder, obwohl wir von uns glauben eine ausgeprägte Menschenkenntnis zu besitzen? Schuld daran sind unbewusste Beurteilungsfehler, denen wir regelmäßig erliegen. Diese verzerren unsere Wahrnehmung. In der Psychologie spricht man von sogenannten Bias. Hier ein paar Beispiele:

Halo-Fehler (auch Halo-Effekt oder Heiligenschein-Effekt): 

Dabei überstrahlt ein einzelnes, besonders auffälliges Merkmal einer Person (z. B. Attraktivität, Freundlichkeit, besondere Leistung) alle anderen Eigenschaften. Aufgrund dieses einen Merkmals wird ein subjektives Gesamturteil gebildet, das andere, eigentlich unabhängige Eigenschaften überdeckt oder verzerrt (Perera, 2023). Beispiel: Bewerber mit einem lückenlosen Lebenslauf werden als insgesamt kompetenter beurteilt, unabhängig von ihren tatsächlichen Fähigkeiten in anderen Bereichen. Oder eine Person mit besonders guten Manieren wird als insgesamt gebildet und charmant eingeschätzt, obwohl das nicht zwangsläufig zutreffen muss.

Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): 

Ist eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen dazu neigen, Informationen so auszuwählen, zu suchen, zu interpretieren und zu erinnern, dass sie ihre bereits bestehenden Überzeugungen oder Erwartungen bestätigen. Widersprüchliche oder widerlegende Informationen werden dagegen ignoriert, abgewertet oder vergessen. Dadurch entsteht eine verzerrte Wahrnehmung der Realität: Man nimmt die Welt nicht objektiv wahr, sondern filtert Informationen so, dass sie ins eigene Weltbild passen (Simkus, 2023). Beispiel: Wer einen Kollegen für faul hält, bemerkt vor allem dessen Pausen und ignoriert fleißige Phasen. Oder in sozialen Medien bekommen Nutzer aufgrund der Algorithmen vorwiegend nur solche Nachrichten angezeigt, die ihre Meinung und Interessen spiegeln.

Attributionsfehler (fundamentaler Attributionsfehler oder Korrespondenzverzerrung):

Sie Beschreibt die Tendenz, das Verhalten anderer Menschen vor allem auf deren persönliche Eigenschaften (Dispositionen) zurückzuführen, während situative oder äußere Einflüsse unterschätzt oder ignoriert werden. Das bedeutet, wir schreiben das Verhalten anderer oft ihrer Persönlichkeit zu, auch wenn eigentlich äußere Umstände eine große Rolle spielen (Otte, o. J.). Beispiel: Eine Mitarbeiterin macht viele Überstunden. Kollegen denken: „Sie ist ineffizient oder überfordert.“ Die Mitarbeiterin selbst sieht die Ursache in der hohen Arbeitslast oder zusätzlichen Projekten. Oder jemand fährt mit dem Auto sehr langsam vor uns her. Man denkt sofort: „Der Fahrer ist unfähig oder rücksichtslos.“ Vielleicht sucht die Person aber nur eine Adresse oder ist ortsfremd.

4.    Wie beurteilen wir Menschen aus wissenschaftlicher Sicht?

Aus wissenschaftlicher Sicht spielen zwei Komponenten für die Beurteilungen einer Person eine Rolle:

  • normative Akkuratheit
  • distinktive Akkuratheit

Unter normativer Akkuratheit versteht man die Genauigkeit, mit der jemand die Persönlichkeit einer anderen Person so einschätzt, wie sie im Durchschnitt für die Gesamtbevölkerung typisch ist. Das heißt: Normativ akkurat ist eine Einschätzung dann, wenn sie möglichst nahe an den durchschnittlichen (mittleren) Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen in der Allgemeinbevölkerung liegt. Es geht also nicht darum, wie gut man die Besonderheiten einer Person erkennt, sondern wie sehr das Urteil dem „Durchschnittsmenschen“ entspricht (Rogers & Biesanz, 2015). Beispiel: Eine Führungskraft schätzt bei einem neuen Teammitglied ein, dass es durchschnittlich gewissenhaft, offen und extravertiert ist – also so, wie es für die Mehrheit der Menschen typisch ist. Diese Einschätzung ist normativ akkurat, wenn das Teammitglied tatsächlich Persönlichkeitswerte hat, die nahe am Bevölkerungsdurchschnitt liegen.

Unter distinktiver Akkuratheit versteht man die Fähigkeit, die einzigartigen und individuellen Persönlichkeitsmerkmale einer bestimmten Person zutreffend zu erkennen und von den Durchschnittswerten (also dem „Normprofil“) der Allgemeinbevölkerung abzugrenzen. Während normative Akkuratheit beschreibt, wie sehr eine Einschätzung dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht, geht es bei der distinktiven Akkuratheit darum, wie präzise die Besonderheiten einer Person erkannt werden. Beispiel: Eine Führungskraft lernt ein neues Teammitglied kennen und erkennt, dass diese Person besonders kreativ und risikofreudig ist – deutlich mehr als der durchschnittliche Mitarbeitende. Die Führungskraft kann diese Besonderheiten klar benennen und nutzt sie gezielt im Team. Das zeigt hohe distinktive Akkuratheit.

Um Menschen richtig einschätzen zu können, muss man beide Komponenten zusammenbringen. So dass man zum Beispiel weiß, wann man ein normatives Wissen einmal zurückstellen muss und wann die Summe der Hinweise und Indizien groß genug ist, um rein differenzierend dann auch abweichend von der Norm irgendeine Einschätzung zu treffen (Rau, 2025).

5.    So kannst Du Deine Menschenkenntnis verbessern

Die Forschung zeigt, dass Menschenkenntnis grundsätzlich trainierbar ist, auch wenn wir unsere Fähigkeiten oft überschätzen. Wissenschaftliche Studien und Übersichtsarbeiten nennen verschiedene Ansätze, um Menschenkenntnis gezielt zu verbessern:

Gezieltes Training sozialer und interpersoneller Kompetenzen:

 Trainingsprogramme, die auf den Ausbau von Soft Skills und zwischenmenschlichen Fähigkeiten abzielen, verbessern nachweislich die Menschenkenntnis. Dabei sind Methoden wie Rollenspiele, Feedback, Reflexion und das gezielte Üben von Perspektivwechseln besonders wirksam. Auch die Übertragung des Gelernten in den Arbeitsalltag („Transfer“) ist entscheidend für nachhaltige Verbesserungen (Efrat, 2022).

Bewusstes und reflektiertes Wahrnehmen: 

Studien zeigen, dass die Genauigkeit von Persönlichkeitsurteilen steigt, wenn Beobachtende mehr Zeit mit der Zielperson verbringen und bewusst genaue Urteile anstreben. Anreizsysteme (z. B. Belohnungen für besonders akkurate Einschätzungen) können die Genauigkeit zusätzlich steigern (Jaeger et al., 2024).

Feedback und Selbstüberprüfung: 

Wissenschaftliche Untersuchungen empfehlen, die eigene Menschenkenntnis regelmäßig zu überprüfen, z. B. durch Abgleich mit Selbst- und Fremdeinschätzungen oder durch den Einsatz von Test-Apps (Rau, 2025).

Förderung von Empathie und Perspektivübernahme: 

Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass gezieltes Training der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen (Mentalisieren), die soziale Wahrnehmung und damit die Menschenkenntnis verbessert (Cross et al., 2016).

Aber auch wenn wir unsere Menschenkenntnis ständig trainieren und verbessern, wird es immer wieder Menschen geben, die uns hinters Licht führen. Der Grund dafür ist, dass einige negative Charaktere einfach sehr gut darin sind, andere zu täuschen oder auszunutzen.

6.    Teste Deine Menschenkenntnis

Psychologen der Uni Münster und der HMU Potsdam haben eine Quiz App mit dem Namen „Who knows“ entwickelt. Hier können Sie testen, wie gut Ihre Menschenkenntnis ist:

Who Knows, die Quiz-App zum Testen deiner Menschenkenntnis - Who Knows

Probieren Sie es aus! Sie helfen auch den Wissenschaftlern weitere Erkenntnisse in diesem Forschungsfeld zu sammeln. Aber Achtung! Seien Sie nicht enttäuscht, wenn die Ergebnisse eher bescheiden ausfallen…


Literaturverzeichnis

Cross, E. S., Ramsey, R., Liepelt, R., Prinz, W., & Hamilton, A. F. D. C. (2016). The shaping of social perception by stimulus and knowledge cues to human animacy. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 371(1686), 20150075. https://doi.org/10.1098/rstb.2015.0075

Efrat, A. (2022). Reviews of literature regarding  interpersonal skills and the workplace  over the years 2011-2021. https://mpra.ub.uni-muenchen.de/118677/1/MPRA_paper_118558.pdf

Jaeger, B., Sleegers, W. W., Stern, J., Penke, L., & Jones, A. L. (2024). Testing perceivers’ accuracy and accuracy awareness when forming personality impressions from faces. European Journal of Personality, 38(6), 907–927. https://doi.org/10.1177/08902070231225728

Kafetsios, K., & Hess, U. (2022). Personality and the accurate perception of facial emotion expressions: What is accuracy and how does it matter? Emotion, 22(1), 100–114. https://doi.org/10.1037/emo0001034

Kanning, U. P. (2014). Die Entzauberung der Menschenkenntnis. https://www.haufe.de/personal/hr-management/psychologie-entzauberung-der-menschenkenntnis_80_212676.html

Mai, J. (2025). Menschenkenntnis Test: Lässt sie sich lernen? https://karrierebibel.de/menschenkenntnis/

Myers, D. G., & DeWall, C. N. (2023). Persönlichkeit. In D. G. Myers & C. N. DeWall, Psychologie (S. 625–664). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66765-1_15

Otte, S. (o. J.). Der fundamentale Attributionsfehler in der Führungsarbeit. https://hub.hslu.ch/leadership/2024/12/03/der-fundamentale-attributionsfehler-in-der-fuehrungsarbeit/

Perera, J. (2023). Halo Effect In Psychology: Definition and Examples. SimplyPsychology. https://www.simplypsychology.org/halo-effect.html

Rau, R. (2025). Menschenkenntnis—Kann man sie lernen? Podcast: Das Wissen. https://www.ardaudiothek.de/episode/das-wissen/menschenkenntnis-kann-man-sie-lernen/swr-kultur/14501371/

Rogers, K. H., & Biesanz, J. C. (2015). Knowing versus liking: Separating normative knowledge from social desirability in first impressions of personality. Journal of Personality and Social Psychology, 109(6), 1105–1116. https://doi.org/10.1037/a0039587

Simkus, J. (2023). Confirmation Bias In Psychology: Definition & Examples. SimplyPsychology. https://www.simplypsychology.org/confirmation-bias.html


Gender-Erklärung

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in dieser Arbeit die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform beinhaltet keine Wertung.



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